ANDREAS SIEMONEIT

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Nautisches Lexikon - Astronomie für Gezeiten

Für das Verständnis der Gezeiten ist ein etwas ausführlicherer Ausflug in die Astronomie erforderlich. Um die Frage zu beantworten, warum Gestirne einander umkreisen und nicht etwa einfach aneinander vorbeifliegen, und wie die Gestirne einander umkreisen (nämlich im allgemeinen nicht auf Kreisbahnen), müssen wir die zugrundeliegende Physik näher untersuchen. Erst dann können wir die astronomische Konstellation der drei Gestirne, die für die Gezeiten wesentlich sind (Erde, Sonne und Mond) genauer betrachten. Beim Mond schauen wir uns außerdem alles rund um die Mondphasen an, weil diese den zeitlichen Haupttakt für die Gezeiten vorgeben.

Für die Erläuterung der ganzen Begriffe rund um Astronomie und Gezeiten gibt es ein Glossar, das in einer separaten Seite zum wiederholten Nachschlagen offen gehalten werden kann.

Gravitation und Fliehkraft

Gestirne laufen dauerhaft umeinander, weil Gravitation und Fliehkraft (die Schlüsselkräfte der Astronomie) in einer bestimmten Weise "zusammenarbeiten". Erst das ermöglicht einen konstanten Bahnverlauf. Wir betrachten mal Erde und Mond.

Da nun die Gestirne einander schon seit langem geduldig umkreisen, müssen die beiden Kräfte zumindest im Mittel im Gleichgewicht sein. Entscheidend ist, wie die Bahn des umlaufenden Gestirns aussieht:

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Umlaufbahnen entstehen durch Zusammenwirken von Eigenimpuls des Umlaufkörpers (Fliehkraft) und der auf ihn wirkenden Gravitation. Auf Grund der Fliehkraft würde der Umlaufkörper von jedem Bahnpunkt aus sich infolge seiner Masseträgheit gleichförmig geradeaus weiterbewegen (Pfeile a). Er wird jedoch gleichzeitig duch die Gravitation in Richtung auf den Zentralkörper zu beschleunigt (b). Aus beiden Größen resultiert nach dem Kräfteparallelogramm die tatsächliche Bahnbewegung (rot).

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Die meisten Himmelskörper beschreiben ellipsenförmige Umlaufbahnen, allerdings meist mit geringer Exzentrizität. B1 und B2 sind die Brennpunkte der Ellipse, B1 ist auch der Ort des gemeinsamen Schwerpunktes der beiden Himmelskörper. 1 bezeichnet den Punkt größter Entfernung vom Zentralkörper ("Apopunkt"), 2 den Punkt geringster Entfernung ("Peripunkt"). Auf der absteigenden Bahnhälfte wird die resultierende Bahngeschwindigkeit mit der Annäherung an den Zentralkörper immer größer bis zum Peripunkt, von da an fällt sie auf der aufsteigenden Bahnhälfte wieder bis zum Apopunkt.

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Himmelsmechanisch prinzipiell mögliche Bahnen eines Körpers im Gravitationsfeld eines anderen mit relativ sehr großer Masse (Zentralkörper):

  1. Kreisbahn um den Zentralkörper B1. Erfordert geringstmögliche Umlaufgeschwindigkeit.
  2. Elliptische Bahn bei höherer mittlerer Umlaufgeschwindigkeit als für eine Kreisbahn erforderlich. Der Zentralkörper steht in dem einen Brennpunkt B1, der zweite Brennpunkt B2 der Ellipse ist leer.
  3. Parabolische Bahn bei Erreichen der sog. Fluchtgeschwindigkeit, die notwendig ist, um aus dem Gravitationsfeld des Zentralkörpers zu entkommen.
  4. Hyperbolische Bahn bei Überschreiten der Fluchtgeschwindigkeit.

Elliptische Bahnen

Der berühmte Astronom Kepler war es, der zeigte, daß der allgemeine Fall des Umlaufs von Gestirnen gar keine Kreisbahn ist, sondern eine elliptische Bahn (der Kreis ist nur der Spezialfall einer Ellipse mit einer Exzentrizität von Null). Und noch genauer gilt, daß nicht ein Gestirn um ein anderes läuft, sondern beide laufen (auf unterschiedlichen Ellipsen) um den gemeinsamen Schwerpunkt. Es gibt nämlich keinen Grund, ein Gestirn vor dem anderen gedanklich zu bevorzugen, sie sind beide gleichberechtigt. Aus der Sicht jedes Gestirns befindet es sich selbst in dem einen von den zwei sog. "Brennpunkten" der Ellipse, das andere läuft außen herum. Der zweite Brennpunkt ist "leer". Die weiter oben dargestellten Ellipsen haben eine sehr starke sogenannte "Exzentrizität". Mit diesem Begriff wird die Abweichung der Ellipse von der Kreisform beschrieben, je größer die Exzentrizität, desto langgestreckter ist die Ellipse. Mit einer Exzentrizität von Null hat man einen Kreis, und tatsächlich laufen die meisten Gestirne auf sehr kreisähnlichen Bahnen umeinander (Exzentrizität nahe Null). Am anderen Ende der Ellipsen-Skala liegen z. B. die Kometen, die auf extrem gestreckten Bahnen laufen (hohe Exzentrizität) und doch immer wieder zur Erde (bzw. knapp dran vorbei ...) "zurückfinden".

Umlauf von Erde und Mond umeinanderNebenstehendes Bild zeigt einen solchen gegenseitigen Umlauf zweier Gestirne, eines schwer, das andere leicht. Wenn die Massen so sehr stark unterschiedlich sind -- wie auch bei den Systemen Erde-Mond oder Sonne-Erde --, dann spricht man vereinfacht doch wieder vom schweren ruhenden Zentralgestirn und dem leichten umlaufenden Gestirn, denn der gemeinsame Schwerpunkt liegt dann in der Regel tief im Inneren des schwereren Gestirns, welches nur einen sehr kleinen Umlauf ausführt. Aber das ist nur eine Näherung, der gemeinsame Schwerpunkt liegt nie genau im Zentrum des Zentralgestirns, und es ruht nie wirklich. Für viele Teile der Gezeitendiskussion reicht jedoch das vereinfachte Bild aus, nur in speziellen Fällen kommt man damit nicht weiter und muß genauer (mit "echtem Doppelumlauf") diskutieren.

Ein wichtiges Ergebnis der astronomischen Arbeiten des Herrn Kepler war außerdem die Erkenntnis, daß das umlaufende Gestirn immer dann schneller wird, wenn es sich auf seiner Ellipse dem Zentralgestirn nähert. Denn durch das Näherkommen wird Gravitationsenergie frei, die in Bewegungsenergie umgesetzt wird (es steht ja keine Energie von außen zur Verfügung, alles bleibt im System). Beim Entfernen wird es dann wieder langsamer.

Die Konstellation von Erde, Sonne und Mond

Die astronomische Gesamtkonstellation

Von der Erde wird die Sonne innerhalb von 365,24 Tagen auf einer elliptischen Bahn (Ekliptik, fast kreisförmig, Exzentrizität nur 1/30) in einer mittleren Entfernung von ca. 150 Mio. km in der sogenannten Ekliptikalebene umkreist. Dabei ist die Rotationsachse der Erde um 23° 30' gegen die Ekliptik geneigt, was uns den Wechsel der Jahreszeiten beschert. Anfang Januar erreicht die Erde ihren sonnennächsten Punkt, das Perihel, und Anfang Juli den sonnenfernsten Punkt, das Aphel. Neben der Bewegung auf ihrer Bahn führt die Erde eine Rotation um ihre eigene Achse aus. Diese Rotation erfolgt von West nach Ost, also im gleichen Drehsinn wie die Bewegung auf ihrer Bahn (im Gegenuhrzeigersinn, wenn man auf den Nordpol schaut).

Die Erde wird ihrerseits vom Mond innerhalb eines Monats (Definition siehe Glossar) auf einer etwas stärker elliptischen Bahn (Exzentrizität 1/18) in einer mittleren Entfernung von 384.000 km umkreist. Die Ebene der Mondbahn ist immer um 5° 9' gegen die Ekliptik geneigt. Den erdnächsten Punkt der Mondbahn bezeichnet man als Perigäum, den erdfernsten als Apogäum. Während eines Erdumlaufs dreht sich der Mond genau einmal um seine eigene Achse und zeigt deshalb der Erde immer die gleiche Seite (Gebundene Rotation, das ist aber für die Gezeiten unerheblich).

Die schwankenden Entfernungen sind für die Jahreszeiten bzw. das Erscheinungsbild von Sonne und Mond praktisch uninteressant, aber die Gezeiten merken diese leichten Schwankungen (bzw. die Effekte lassen sich in den Gezeitentafeln leichter objektivieren).

Die Bewegung des Mondes um die Erde ist allerdings noch um einiges komplizierter, da mehrere Eigenwilligkeiten der Mondbahn hinzukommen:

All diese mehrjährigen Perioden finden sich in den Gezeitentafeln wieder. Nebenbei: Würde die Mondbahn exakt in der Ebene der Ekliptik verlaufen, dann gäbe es monatlich je eine Mond- und eine Sonnenfinsternis. Da der Mond aber so schief umläuft, ist das nur selten der Fall.

Die Mondphasen

Weil der Mond sehr erdnah ist und eine das Sonnenlicht gut reflektierende Oberfläche hat, ist er nach der Sonne der zweithellste Himmelskörper am irdischen Firnament. Die unterschiedlichen Stellungen von Erde, Mond und Sonne zueinander führen zu den sogenannten Lichtphasen des Mondes. Bei Neumond steht der Mond zwischen Erde und Sonne (Konjunktion), bei Vollmond der Sonne gegenüber (Opposition). Zwischen Neumond und Vollmond ist zunehmender, danach abnehmender Mond, mit Halbmond jeweils in der Mitte (1. und letztes Viertel). Ein vollständiger Ablauf aller Lichtphasen wird Lunation genannt.  

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Aufgang und Untergang des Mondes erfolgen täglich 24 / 29,53 h später (ca. 50 min.), da der Mond ja auf seiner Bahn weiterzieht und die Erde sich diese 50 min. länger drehen muß, um wieder die gleiche Stellung bezüglich des Mondes zu erreichen. Das führt zu folgendem Bild:

Die Lichtphase des Mondes ist also ein direkter Gradmesser für seine Stellung zur Sonne, und die Stellung zur Sonne ist entscheidend für das gemeinsame Wirken der beiden an den Gezeiten (halbmonatlicher Wechsel von Spring und Nipp). Für das tägliche Auf und Ab des Meeresspiegels ist die Mondphase allerdings zunächst mal egal, hierfür reicht der relativ langsame Umlauf des Mondes in Kombination mit der relativ schnellen Erddrehung. Wenn man die oben genannten 24 h 50 min. durch 2 teilt (es gibt zwei "Gezeitenberge" auf der Erde), erhält man genau den mittleren Gezeitenrhythmus von 12 h 25 min.

Der scheinbar größere Durchmesser des Mondes, wenn er beim Aufgang und Untergang knapp über dem Horizont steht, ist übrigens eine vom Gehirn zu verantwortende optische Täuschung, die -- wie jede gute optische Täuschung -- täuschend echt wirkt, so daß viele Leute dies hier nicht glauben mögen. Es lässt sich aber über Fotografien leicht objektiv beweisen, auch über einfache sinnesphysiologische Experimente (Stereobilder).