Nautisches Lexikon - Radeffekt
ls
Radeffekt bezeichnet man die Tatsache, daß ein Schiff unter Maschine auch bei Mittschiffsruder eine
Drehtendenz
aufweist, bei Vorausfahrt meist nur ganz leicht (wenn überhaupt), bei Achterausfahrt
meist erheblich bis umwerfend (diese Dominanz bei Achterausmanövern macht das Thema
überhaupt nur interessant). |
Bei einem linksgängigen Propeller wird das Heck bei Vorausfahrt nach Backbord versetzt, bei Achterausfahrt nach
Steuerbord. Da man diesen (an sich störenden und ungewollten) Effekt beim Anlegen gut
nutzen kann, indem man beim Aufstoppen das Heck durch einen Schub achteraus steuerbords an
den Steg zieht, spricht man in diesem Fall von der Steuerbordseite als Schokoladenseite
fürs Anlegen.
Bei einem rechtsgängigen Propeller (bei Motorschiffen die Regel) ist alles genau
andersherum. Schiffe mit zwei (gegenläufigen) Propellern besitzen in der
Regel deutlich weniger Radeffekt, da sich die Effekte teilweise aufheben. Ganz tun sie's
anscheinend (wie auch ich zunächst dachte) doch nicht.
Auffällig am Radeffekt ist, daß er von Schiff zu Schiff außerordentlich
unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Schon hier wird deutlich, daß es was mit der
Rumpfform zu tun haben muß und kein reiner Propellereffekt sein kann. Grundsätzlich
gilt, daß ein Propeller auf einer schräg nach unten geführten Welle (der also bei
Rückwärtsfahrt das Wasser schräg nach oben gegen den Rumpf strahlt) einen starken
Radeffekt verursacht, außerdem hängt es vom Abstand Propeller-Rumpf und der Rumpfform
ab. Der Name Radeffekt leitet sich von der (falschen!) Vorstellung ab,
der Propeller laufe wie ein Wagenrad mit dem unteren Rand auf dem Grunde. Das ist eine
prima Merkregel, um sich aus der Drehrichtung des Propellers die Wirkrichtung des
Radeffektes zu erklären, aber es ist keine Erklärung.
Die genaue Erklärung des Radeffektes ist ziemlich kompliziert -- wenn es einfach wäre, würden
sich die ganzen mystischen Erklärungen nicht halten können. Um es kurz und
knapp zu sagen: Der Radeffekt resultiert aus der Tatsache, daß der Propeller das
Wasser nicht nur geradlinig beschleunigt, sondern dem Wasser aufgrund seiner schräggestellten Flügel auch einen Drehimpuls (Drall) erteilt. Anschaulich könnte man
sagen, daß die vom Propeller beschleunigte "Wassersäule" rotiert. Damit strömt
das Wasser nicht nur vor und zurück, sondern auch quer zum Boot und nimmt
es seitlich mit.
In allem Folgenden wird ein linksgängiger Propeller
betrachtet, wie er auf Yachten in der Regel angetroffen wird. Ein linksgängiger
Propeller dreht bei Vorausfahrt von hinten gesehen gegen den
Uhrzeigersinn. Meine Quelle für
diese Ausführungen ist das Kapitel K: "Steuerwirkung von Propellern" von Prof.
Dr.-Ing. S. D. Sharma, in: Handbuch der Werften, Band 18, Seite 103ff.. Hrsg.
Dr. K. Wendel, Schiffahrts-Verlag "HANSA", erschienen ca. 1985.
ür die
Schiffstechniker gibt es gar nicht DEN Radeffekt, sie definieren wenigstens vier
miteinander konkurrierende Effekte dieser Art, zwei direkte (pure Propellereffekte, die
auch bei einem "nackten" Propeller existieren) und zwei indirekte (die nur
in Verbindung mit Rumpf oder Ruderblatt existieren). |
- Direkte Steuerwirkung infolge der vom Propeller erzeugten Querkraft
Der sogenannte Nachstrom -- also die Strömung hinter dem Propeller (gewissermaßen
das Kielwasser) -- ist im oberen Teil des Propellers stärker als im unteren
Teil (oben näher an der
Wasseroberfläche, folglich geringerer Umgebungswiderstand). Dies
bewirkt im oberen Teil des Propellerumlaufs (12-Uhr-Stellung, immer von hinten gesehen)
stärkeren Schub, auch seitlich (Wasser wird nach Backbord gedrückt), so daß eine
seitliche Nettowirkung verbleibt, die das Heck nach Steuerbord versetzt.
- Direkte Steuerwirkung infolge der vom Propeller erzeugten Schubexzentrizität
Der Nachstrom des Propellers ist nicht nur nach hinten, sondern auch nach oben
gerichtet, da das Wasser vom Propeller eher von unten angesaugt wird (weil der Rumpf im
Weg ist). Dies erzeugt in der 9-Uhr-Stellung einen stärkeren Schub, in unserem Fall auf
der Backbordseite des Propellers. Das Boot dreht insgesamt nach Steuerbord, das Heck also nach Backbord.
- Indirekte Steuerwirkung infolge des unsymmetrischen Propellersogs am Rumpf
Sogenannter Hovgaard-Effekt, nach dem Schiffstechniker Prof.
William Hovgaard, der diesen Effekt 1940 erstmals beschrieben hat. Der Propeller saugt
Wasser von vorn an und drückt es nach hinten. Dies führt zu einer Strömung entlang des
Rumpfes (die sich natürlich mit der normalen Schiffsbewegung überlagert). Diese
Strömung ist allerdings wegen des Effektes Nr. 2 ebenfalls unsymmetrisch, nämlich auf
derjenigen Seite des Rumpfes stärker, wo der Propeller stärkeren Schub entwickelt, in
unserem Falle also auf der Backbordseite. Stärkere Strömung bedeutet geringeren
Wasserdruck und damit Sog (generelles physikalisches Prinzip), hier nach Backbord, so daß
das Heck ebenfalls nach Backbord versetzt wird.
- Indirekte Steuerwirkung infolge unsymmetrischen Propellerschubs am Ort des
Ruders
Das Ruderblatt wird ebenfalls von Querströmungen angeströmt, im oberen Bereich
von solchen, die aus dem oberen Bereich des Propellers (12-Uhr-Stellung) stammen, im
unteren von solchen, die aus der 6-Uhr-Stellung stammen (Effekt Nr. 1). Da diese nicht
gleich sind, heben sie sich nicht genau auf. Das Ganze ist aber erheblich von der
Ruderform und -größe abhängig, so daß es hier keine einheitliche Richtung
gibt. Bei den üblichen Yachtrudern mit nach unten abnehmendem Profil dürfte der Effekt
im oberen Teil überwiegen, so daß das nach Backbord gedrückte Wasser das Heck über das
Ruderblatt ebenfalls nach Backbord drückt. Aber das muß nicht so sein.
Wohlgemerkt: Wir sind immer noch bei Vorausfahrt.
Der Witz an der ganzen Sache ist, daß die Effekte sich teilweise oder
ganz wieder aufheben. In welche Richtung der Gesamteffekt wirkt, ist
durchaus eine diffizile Geschichte (kleine Differenzen sind immer heikel in dieser
Hinsicht) . Prof. Sharma schreibt, daß sich Nr. 1 in der Regel mit Nr. 2 und 3 aufhebt,
so daß Nr. 4 die Richtung entscheidet. Tatsächlich gibt es aber auch Schiffe, bei denen
der Gesamteffekt genau andersherum ist, so daß bei Vorausfahrt unsere feine Merkregel mit dem auf dem
Grund laufenden Rad in die Irre führt.
Es muß noch einmal betont werden, daß es sich bei Vorausfahrt um sehr kleine Effekte
handelt. Auf Yachten dürfte es kaum meßbar sein, auf Großschiffen ist der Effekt zwar eher meßbar, aber unbedeutend,
da durch eine leichte Ruderlage (wenige Grad) der Effekt völlig neutralisiert werden
kann.
ei Achterausfahrt
sieht die Sache völlig anders aus:
Der Hovgaard-Effekt Nr. 3 überragt alle anderen in ihrer Wirkung
deutlich.
Die "rotierende Wassersäule" ist vom Propeller rückwärts direkt auf den Rumpf
gerichtet, und zwar rotiert die Wassersäule im oberen Teil (von dem der Rumpf
direkt getroffen wird) nach Steuerbord (und im unteren Teil der Wassersäule
entsprechend nach
Backbord). Faktisch haben wir damit eine Querströmung unter dem Rumpf,
von Backbord nach Steuerbord.
- Auf der Backbordseite des Rumpfes
wird diese Querströmung vom Rumpf gebremst und schiebt dadurch das Heck
nach Steuerbord.
- Auf der Steuerbordseite kann diese Querströmung relativ ungehindert am Rumpf vorbeiströmen.
Diese im Vergleich zur Backbordseite höhere Strömungsgeschwindigkeit bedeutet Sog auf
der Steuerbordseite. Der Sog zieht das Heck ebenfalls nach Steuerbord.
Der Radeffekt kommt bei Achterausfahrt aus folgenden Gründen so stark
zum Tragen:
- Der Hovgaard-Effekt ist stärker, da die Strömung stärker ist.
Der Rumpf wird direkt
und kräftig vom Propeller angeströmt, also mit viel
höheren Strömungsgeschwindigkeiten, als es bei Vorausfahrt der Fall ist, wenn der Hovgaard-Effekt relativ
indirekt und
schwach durch Effekt Nr. 2
hervorgerufen wird.
- Der Radeffekt kann sich bei geringer Fahrt achteraus "frei entfalten", er
hat keine Konkurrenz vom Ruderblatt.
Maschine achteraus ist eine Ausnahme, sie wird nur beim Bremsen oder Manövrieren verwendet. Wir haben es bei
Maschine achteraus also regelmäßig mit geringen
Geschwindigkeiten oder sogar Fahrt Null zu tun. Das Ruderblatt ist
bei geringer Umströmung praktisch wirkungslos. Da zudem der Propeller das Wasser nicht auf das
Ruderblatt, sondern in die Gegenrichtung auf den Rumpf wirft, kommt auch
kein Anströmeffekt des Ruders zustande (wie man ihn sich beim "Drehen auf dem
Teller" während der Maschine-voraus-Phase zunutze macht). Erst wenn man
rückwärts nennenswert Geschwindigkeit aufgenommen hat, kann man den Radeffekt
durch Ruderlegen überwinden. Manchmal dominiert der Radeffekt jedoch so stark,
dass man kaum so weit kommt, jedenfalls nicht auf engem Raum.
Große Schiffe verwenden übrigens überwiegend rechtsgängige Propeller. Hier wirkt
der Radeffekt bei Maschine achteraus so, daß das Heck nach Backbord versetzt wird, das
Schiff also insgesamt nach Steuerbord dreht. Dieser Effekt ist beim Manöver des letzten
Augenblicks in aller Regel erwünscht, da er den Kurshalter aus der Kollisionsgefahr
herausdreht. Der Radeffekt unterstützt also die KVR ...
er
Radeffekt ist sicherlich eine derjenigen Tatsachen, die am häufigsten falsch erklärt
werden, was vielleicht angesichts der komplexen Effekte verzeihlich ist. Bisher habe ich
die richtige Erklärung nur in der "Seemannschaft" gefunden, wenn man von der
speziellen Fachliteratur mal absieht. Hier noch eine kleine Auswahl von falschen
Erklärungen: |
- Höhere Dichte des Wassers in der Tiefe
Behauptung: Das Wasser ist im unteren Drehbereich des Propellers (aufgrund des
Druckanstieges mit der Tiefenzunahme) dichter, der Propeller erfährt hier unten einen
größeren Widerstand als oben und versetzt daher das Heck.
Widerlegung: Wasser ist (wie alle Flüssigkeiten) praktisch inkompressibel, verändert
also seine Dichte mit steigendem Druck kaum (genauer: je 20 cm Tiefenzuwachs verringert
sich das Volumen um etwa 1 Millionstel). Diese Dichteänderung ist in keiner Weise vom
Propeller spürbar und wird von Strömungseffekten völlig überlagert.
- Höherer Druck in der Tiefe
Behauptung: Der Wasserdruck ist im unteren Drehbereich des Propellers (aufgrund des
Druckanstieges mit der Tiefenzunahme) höher, der Propeller erfährt hier unten einen
größeren Widerstand als oben und versetzt daher das Heck.
Widerlegung: Die Argumentation klingt identisch wie die vorhergehende, ist aber nicht ganz
so weit hergeholt, weil der Druckanstieg mit der Tiefe tatsächlich erheblich ist.
Klemmt aber trotzdem, weil der Druck von allen Seiten wirkt und somit auch auf die
Rückseite des Propellerflügels. Dem Propeller ist es "egal", wie hoch der
Druck um ihn herum ist, der Druck hat keinen Einfluß auf den Drehwiderstand der Flügel.
- Der Propeller spürt die Nähe des Grundes
Behauptung: Der Propeller spürt im unteren Drehbereich die Nähe des Grundes und erfährt
deshalb unten einen größeren Widerstand als oben und versetzt daher das Heck.
Widerlegung: Wenn der Propeller im unteren Drehbereich die Nähe des Grundes spürt, dann
bezeichnet man das Schiff als Grundsitzer ... :-) Man kann die Auswirkungen des
Radeffektes prima mitten auf der Hohen See studieren, auf 1500 m Wassertiefe. Daran kann
es wohl nicht liegen. Hier wird vermutlich die anschauliche Merkregel, die dem Radeffekt
seinen Namen gibt (s. o.), mit einer Erklärung verwechselt.