ANDREAS SIEMONEIT

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Nautisches Lexikon - Ausweich-Begriffe

Hier sind vier Ausweich-Begriffe versammelt, bei deren Abgrenzung immer wieder Schwierigkeiten auftreten. Alle vier enthalten die eine "Rolle" dessen, der "weitermachen" darf, und die andere "Rolle" dessen, der "sein Verhalten ändern" muss. Unterschiede gibt es zum einen in der Rollenzuteilung, aber vor allem bei den Konsequenzen, die ein Nichteinhalten des Rollenverhaltens für beide Beteiligten hat.
Die ersten beiden Begriffe entstammen den KVR, die letzten beiden der SeeSchStrO.

Ausweichpflicht

Standard-Begriff der KVR, begründet bei "der Möglichkeit der Gefahr eines Zusammenstoßes" den Zwang des Ausweichpflichtigen zum Ausweichen (frühzeitig und durchgreifend) und des Kurshalters zum Kurshalten. Der Kurshalter darf jedoch nicht einfach sein Steuerrad festbinden und fünf Mal kurz tuten. Er darf nicht bis zum (bitteren) Ende einfach davon ausgehen, daß der Ausweichpflichtige auch wirklich ausweicht, sondern auch dem Kurshalter wird Verantwortung auferlegt.

Im Extremfall kann es bis zu drei Stadien der Entwicklung geben:

  1. Die Standardsituation: Der Kurshalter hält Kurs, der Ausweichpflichtige weicht aus. Meist kommt es nicht zu der weiteren kritischen Entwicklung.
  2. Die Lage wird langsam heikel, der Ausweichpflichtige macht nichts oder zumindest nichts Geeignetes. Der Kurshalter hat jetzt die Möglichkeit zum Manöver des vorletzten Augenblicks, darf also durch ein geeignetes Manöver seinerseits die Situation entschärfen (wobei er bei der Wahl seines Manövers berücksichtigen muß, daß der Ausweichpflichtige möglicherweise doch noch regulär handelt, der Kurshalter darf ihm dabei nicht in den Weg fahren). Hierzu ist der Kurshalter jedoch nicht verpflichtet, es ist eine Option (ein bißchen wie "Der Klügere gibt nach").
  3. Die Lage wird ganz kritisch. Selbst wenn der Ausweichpflichtige jetzt noch in die Gänge kommen würde, wäre eine Kollision unausweichlich, sein Handeln würde allein nicht ausreichen, die Kollision zu vermeiden. Nun hat der Kurshalter die Pflicht zum Manöver des letzten Augenblicks. Er muß sich aktiv an der Kollisionverhütung beteiligen, ansonsten wird er mitschuldig. Diese Mitverpflichtung des Kurshalters ändert aber nichts an der Weitergeltung der Ausweichpflicht des Ausweichpflichtigen, der weiterhin seiner Ausweichpflicht nachkommen muß (und der Kurshalter muß entsprechende Manöver des Ausweichpflichtigen bei seinem Handeln miteinplanen). Beide Beteiligten sind also in diesem Stadium zum Handeln verpflichtet.

Kurshalter und Ausweichpflichtiger erhalten ihre "Rollen" zum Zeitpunkt des ersten Insichtkommens, hieraus bestimmen sich die jeweiligen Verantwortlichkeiten. Eine spätere Änderung der Lage der Fahrzeuge zueinander verändert nicht die Verantwortlichkeit ("Einmal ausweichpflichtig, immer ausweichpflichtig!").

Nichtbehinderungsgebot

Kniffliger Begriff der KVR, sozusagen der "Vorfahrtbegriff" der KVR. Die KVR können über das Nichtbehinderungsgebot die normalen KVR-Regeln in bestimmten Situationen "umdrehen" und ein normalerweise ausweichpflichtiges Schiff zum Quasi-Kurshalter machen (sozusagen gezielt begünstigen).

Das Nichtbehinderungsgebot begründet beim potentiellen Behinderer (nennen wir ihn mal "Hinderlich") die Pflicht, gegenüber dem nicht zu behindernden Schiff (dies sei "Freie Fahrt") so zu handeln, daß es gar nicht erst zur Möglichkeit der Gefahr eines Zusammenstoßes kommt. Das kann für "Hinderlich" Warten bedeuten, eine Kurs- oder Geschwindigkeitsänderung oder jedes andere geeignete Manöver. Und in den allermeisten Fällen wird "Hinderlich" richtig handeln, also "Freie Fahrt" nicht behindern, und alles ist gut. Dies ist auch der Sinn dieser Regelung: Die Schiffsführer sind routiniert und verständig, verstehen ihr Geschäft und handeln gemäß den Regeln, und das Ziel der Regelung wird erreicht, nämlich freie Fahrt für "Freie Fahrt".

Sollte es jedoch zur Möglichkeit der Gefahr eines Zusammenstoßes kommen, dann gelten die normalen Ausweichregeln nach KVR. Falls die Konstellation so ist, daß "Freie Fahrt" nach den normalen KVR-Regeln ausweichpflichtig ist, dann muß "Freie Fahrt" ein Ausweichmanöver beginnen, und "Hinderlich" wird eigentlich kurshaltepflichtig. Allerdings behält für "Hinderlich" das Nichtbehinderungsgebot Vorrang vor der entstandenen Kurshaltepflicht: Sie muß weiterhin versuchen, die Behinderung zu vermeiden.

Und an diesem Punkt entstehen meistens die Verständnisschwierigkeiten: Wozu hat man ein Nichtbehinderungsgebot, wenn im eigentlich interessanten Fall dann doch nach KVR ausgewichen wird? Und wieso darf "Hinderlich" ihre (illegalerweise) erworbene Kurshaltepflicht nicht "auskosten", sondern muß weiterhin durch geeignete Manöver versuchen, die Behinderung zu vermeiden? Dann weichen doch beide aus? Hä?

Man brauchte für die Fälle der Kollisionsgefahr eindeutige Regeln für das Verhalten und wollte neben den üblichen KVR-Regeln keine neuen erfinden (wobei dies -- ehrlich gesagt -- vielleicht der einfachere Weg gewesen wäre). Der oben genannte scheinbare Widerspruch bedeutet ganz praktisch: "Hinderlich" bleibt bei einer Kollisionsgefahr zunächst die "Hauptakteurin" und muß alles tun, um die Behinderung zu beenden. Sie wird also keine klassische Kurshalterin. Allerdings muß sie bei ihren Manövern einplanen, daß "Freie Fahrt" jetzt ein reguläres Ausweichmavöver einleitet. Dies schränkt die möglichen Aktionen von "Hinderlich" ein und verpflichtet auch "Freie Fahrt" zum Handeln. Zur Erinnerung: Diese Regelung gilt ja nur für den (viel selteneren) Fall, dass der Schiffsführer von "Hinderlich" trottelig ist und nicht das Richtige macht.

Die Situation ist für "Freie Fahrt" ähnlich wie für einen klassischen Kurshalter, dem die Sache unsicher wird und der deshalb ein Manöver des vorletzten Augenblicks einleitet: Er muß weiterhin ein reguläres Ausweichmanöver des Ausweichpflichtigen erwarten.

Herrn Jens Wilbertz von der Jade-Hochschule verdanke ich noch folgenden Hinweis, der die Sache deutlich klarer macht: "In sehr, sehr vielen Fällen ist es so, dass ein Schiff, welches nicht behindert werden darf, seinen Kurs und seine Geschwindigkeit nicht beibehalten kann, z. B. wenn ein 'Tiefgänger' dem Verlauf eines Fahrwassers, natürlichem tiefen Wasser, Fahrrinne, Morphologie etc. folgt. Das bedingt, dass man ihn rechtlich nicht zum 'Kurshalter' hätte werden lassen können, weil derartige Schiffe ihren Kurs und ihre Geschwindgikeit unter gewissen Voraussetzungen eben nicht beibehalten können. Also musste ein neues rechtliches Konstrukt her -- das Behinderungsverbot -- welches 'Freie Fahrt' das Recht gibt, seinen Kurs und seine Geschwindigkeit den Umständen entsprechend zu ändern."

Vorfahrt

Ganz spezifischer SeeSchStrO-Begriff, der der besonderen Rolle der Fahrwasser mit ihrem starken Durchgangsverkehr Rechnung trägt und in vielfacher Hinsicht mit dem Vorfahrtbegriff aus dem Straßenverkehr vergleichbar ist. Die SeeSchStrO will den Durchgangsverkehr (aber auch nur diesen, s. u.) im Fahrwasser (sozusagen der Hauptstraße) flüssig ermöglichen und daher begünstigen.

Vorfahrt begründet eine Wartepflicht des Vorfahrt-Gewährenden (§ 25 Abs. 6 SeeSchStrO). Er muß rechtzeitig durch sein Fahrverhalten deutlich machen, daß er warten wird. Das Vorschreiben einer Wartepflicht ist insbesondere deshalb sinnvoller als das Vorschreiben einer Ausweichpflicht, als dass in den engen Fahrwassern für ein Ausweichen oft gar nicht genug Raum ist. Das Vorfahrts-Schiff ist zwar nicht formal Kurshalter im Sinne der KVR (weil es den Kurshaltebegriff im Fahrwasser nicht gibt), genießt aber einen vergleichbaren Status. Auch beim Entstehen einer Kollisionsgefahr bleibt die Wartepflicht des Vorfahrt-Gewährenden bestehen. Jedoch hat auch nach der SeeSchStrO das Vorfahrt-Schiff im Falle einer Kollisionsgefahr die Pflicht zum Manöver des letzten Augenblicks, es darf seine Vorfahrt nicht erzwingen. Auch hat es die Möglichkeit zum Manöver des vorletzten Augenblicks. Aber es wird nie auf einmal ausweichpflichtig, wie dies beim Nichtbehinderungsgebot der Fall ist.

Nicht alle Fahrzeuge, die sich im Fahrwasser befinden, sind automatisch auch Teilnehmer am Durchgangsverkehr: Die "durchgehende Schiffahrt" umfaßt nur die Fahrzeuge, die deutlich dem Fahrwasserverlauf einer Seeschiffahrtstraße folgen (sogenannte Längsfahrer). Deutlich heißt: die Fahrtrichtung weicht um höchstens ± 10° von der Richtung des Fahrwassers ab. Sind es mehr als ± 10°, dann ist man schon dabei, das Fahrwasser zu queren. Der geübte Gesetzestextleser merkt sofort, daß hier reichlich Futter für Zweifelsfälle schlummert ... Waren's 9°? Oder 11°?

Wegerechtschiff

SeeSchStrO-Begriff, sozusagen eine "Lex Großtanker". Im deutschen Küstenmeer mit seinem vielen Verkehr, den Verkehrstrennungsgebieten und den Vorsichtsgebieten, den Flachstellen und den Gezeiten kann es noch mehr Gründe als nur den reinen Tiefgang geben, warum ein bestimmtes Schiff auf keinen Fall behindert werden darf und auch gar nicht richtig ausweichen kann. Solche Schiffe können tideabhängig einen "point of no return" erreichen, wo sie innerhalb eines engen Zeitfensters unbehindert weiterfahren können müssen. Mit der Tiefgangbehinderung nach KVR allein kam man nicht weiter.

Innerhalb der deutschen Fahrwasser ist die Sache ja gut geregelt, ein Großtanker, der dem Fahrwasser folgt, hat Vorfahrt. Aber auch hier kann es Schiffe geben, die nicht jeden Teil des Fahrwassers nutzen können, weil es dort zu flach ist, und deshalb plötzlich auf die "falsche" Seite wechseln müssen. Dann müssen sogar andere Schiffe, die eigentlich selbst dem Fahrwasser folgen, ausweichen.

Außerhalb der Fahrwasser jenseits der Dreimeilenzone gelten jedoch auch in deutschen Hoheitsgewässern nur die KVR, und die kennen dort eigentlich nur das Nichtbehinderungsgebot mit seinen etwas eigenwilligen Konsequenzen. Das Problem beim Nichtbehinderungsgebot nach KVR ist, daß sich bei einer Kollisionsgefahr plötzlich eine Ausweichpflicht für einen riesigen Pott ergeben kann, dem es noch nicht mal überall tief genug ist und der obendrein vielleicht noch gefährliche Güter geladen hat und an die Tide gebunden ist und und und ..., und das alles nur, weil ein Segler ihm in die Quere kommt. D. h. die Befolgung der KVR kann hier zu Situationen führen, die gefährlich sind und dem gesunden Skipperverstande widersprechen.

Um all dies zu vermeiden, hat man in den deutschen Hoheitsgewässern den Begriff des Wegerechtschiffes geschaffen, das schlicht per Definition als manövrierbehindert gilt (also die entsprechenden Signale zeigen darf, aber auch zeigen muß). Es gibt in der SeeSchStrO eine Reihe von Regeln, wann Schiffe diesen Sonderstatus beanspruchen dürfen (sozusagen ein SeeSchStrO-Zusatz zum KVR-Katalog der Gründe für Manövrierbehinderung). Dann müssen ihnen praktisch alle anderen (bis auf die Manövrierunfähigen) von vornherein ausweichen, wie das für alle manövrierbehinderten Schiffe nach den KVR gilt.